IST DER BEGRIFF „TRIEB“ IM MODERNEN HUNDETRAINING ÜBERHOLT?
Sollten wir diesen Begriff im Zusammenhang mit Jagdverhalten weiterhin nutzen?
Mein Hund hat einen unglaublich hohen „Jagdtrieb“! Das höre ich ständig und finde es nachvollziehbar, denn es ist eingängig und man weiß sofort, was gemeint ist. Ich schlage stattdessen vor, den Begriff „jagdliche Motivation“ zu verwenden, und löse damit regelmäßig eine ordentliche Diskussion aus. Es gibt viele Gründe, warum es wissenschaftlich nicht korrekt ist, Jagdverhalten als „Trieb“ zu bezeichnen. Und die sind wirklich spannend!
1. WIR KÖNNEN „TRIEB“ NICHT MESSEN – WOHL ABER VERHALTEN
Wenn wir von Trieb sprechen, meinen wir, dass sich im Inneren des Hundes etwas aufbaut oder anstaut, das ihn unter Druck setzt, sich auf eine bestimmte Weise zu verhalten. Doch leider können wir das nicht wissenschaftlich aufzeichnen, weil wir die Emotionen eines Hundes und das, was in seinem Körper und Geist vorgeht, nicht exakt messen können.
Es wäre also unwissenschaftlich, zu behaupten, ein Hund verliere die Kontrolle, weil dieser Druckaufbau in ihm stattfindet.
Doch wir können das Verhalten eines Hundes messen und es mit seiner Umgebung in Beziehung setzen. Verhalten wird immer im Kontext mit der Umwelt betrachtet! Dies ist eine genauere und wissenschaftlichere Art, Verhalten zu beschreiben und zu messen, als irgendein ominöser „Trieb“.
2. INTRINSISCHE UND EXTRINSISCHE MOTIVATION – ODER EINE MISCHUNG?
Ein Trieb wäre vollkommen intrinsisch motiviert, denn er kommt ausschließlich aus dem Inneren des Hundes. Doch dass ein Hund mit dem Beutefangverhalten beginnt, ist auch auf äußere Reize zurückzuführen. Dabei kann es sich um eine Sichtung oder den Geruch von Wildtieren, eine bestimmte Bewegung oder sogar eine bestimmte Art von Landschaft handeln, die Jagdverhalten in einem Hund auslöst.
Daher ist es wahrscheinlicher, dass eine Mischung aus intrinsischer und extrinsischer Motivation vorhanden und nicht allein ein innerer Antrieb auslösend ist.
3. WIR ZWINGEN DEN HUNDEN EIN MENSCHLICHES KONZEPT AUF
Wir sind stark von Freuds Triebtheorie beeinflusst und versuchen daher automatisch, sie auf unsere Hunde anzuwenden. Doch wir sollten uns bewusst machen, dass es sich hierbei um ein menschliches Konzept handelt, das nicht direkt auf Hunde übertragen werden kann. Freud stellte fest, dass Triebe ein Teil unserer Persönlichkeit und tief in uns verwurzelt sind. Doch damit diese Theorie wirklich Bestand hat, muss ein Individuum auch ein Über-Ich und ein Ich haben, die alle Teil unserer Psyche sind. Bei Hunden können wir das nicht messen, was bedeutet, dass unsere Hunde es entweder nicht haben oder dass wir zum jetzigen Zeitpunkt wissenschaftlich nichts darüber wissen. Es gibt also keine wissenschaftliche Grundlage, um diese auf Menschen basierende Theorie einfach auf unsere Hunde zu übertragen!
4. WIR MEINEN VIELLEICHT NICHT DASSELBE
Das Wort „Trieb“ ist für den Menschen im Allgemeinen vielseitig auslegungsfähig. Wenn Menschen von Trieb sprechen, meinen sie in der Regel den Kontrollverlust, den Ihr Hund erlebt. Den tieferen wissenschaftlichen Hintergrund kennen die meisten von uns ja gar nicht.
Lass mich das anhand eines anderen, ebenfalls sehr spannenden Beispiels für einen in der Öffentlichkeit missverstandenen Begriff erläutern: Strafe.
Der Begriff „Strafe“ wird von Laien in der Regel folgendermaßen verwendet:
Strafe ist etwas, das oft moralisch oder aus einem Gefühl der Rache heraus eingesetzt wird. Denn dabei denken wir Menschen oft: „Das hättest du nicht tun sollen, also werde ich dies jetzt als Strafe tun.“
Als Beispiel: Dein Hund geht spazieren und ignoriert seinen Rückruf. Zur „Bestrafung“ kann der Besitzer den Hund anschreien, wenn er ihn zurückholt, und ihn für den Rest des Spaziergangs an der Leine halten. Doch dies ist lerntheoretisch betrachtet nicht unbeding auch eine Bestrafung für den Hund. Warum? Nun, weil es die Wahrscheinlichkeit, dass dies beim nächsten Spaziergang wieder passiert, nicht verringert hat.
Wenn du deinem Hund etwas Unangenehmes antun, ist es auch einfach nur das: unangenehm.
Doch wenn wir Strafe aus lerntheoretischer Sicht betrachten, sehen wir etwas ganz anderes! Aus lerntheoretischer Sicht kann man etwas nur dann als Strafe bezeichnen, wenn die Häufigkeit eines Verhaltens als Folge der Bestrafung deutlich abnimmt.
Wenn also „Laien“ von „Trieb“ sprechen, wird gemeinhin angenommen und verstanden, dass ein Trieb dazu führt, dass ein Hund begierig ist oder sich danach sehnt, etwas zu tun oder sich auf eine bestimmte Weise zu verhalten, und dass er sich nicht zurückhalten kann. Es handelt sich um einen Drang, der unbedingt ausgeführt werden muss, egal was man tut, um ihn zu kontrollieren.
Was sie oft meinen, ist in Wahrheit ein Verlust der Impulskontrolle!
Wissenschaftlich gesehen ist das Jagdverhalten also kein Trieb, sondern ein Bedürfnis und damit ein bedürfnisorientiertes Verhalten.
5. „TRIEB“ ZEMENTIERT DIE VORSTELLUNG EINES HIERARCHISCHEN GEFÄLLES
Und damit sind wir schon bei der sozialpsychologischen Komponente dieses Problems angelangt. Wenn wir davon ausgehen, dass Trieb von innen kommt und nicht kontrolliert werden kann, bedeutet das, dass weder dein Hund selbst noch du den Trieb deines Hundes kontrollieren kannst. Es ist eine unwillkürliche Reaktion, über die niemand Kontrolle hat, nicht einmal der Hund selbst. Und hier gibt es nun zwei Möglichkeiten für den Umgang mit diesen Erkenntnissen: Entweder bist du ein Opfer des Triebs deines Hundes, denn du hast ja keine Kontrolle darüber. Das ist eine großartige Möglichkeit, den Trieb als Ausrede dafür zu benutzen, dass du deinen Hund nicht kontrollieren kannst! Oder du greifst zu immer aggressiveren Methoden, um zu versuchen, die Kontrolle wiederzuerlangen.
Oder vielleicht betrachtest du dich selbst als über deinem Hund stehend und nutzt sogar aus, dass er ein Opfer seines eigenen Jagdtriebs ist.
Beide Möglichkeiten sind Teil eines hierarchischen Systems, bei dem du dich entweder unter oder über deinem Hund siehst, aber nie auf derselben Stufe.
Dies liefert wiederum eine wunderbare Vorlage dafür, dass es offenbar unmöglich ist, „triebgesteuerte Hunde“ ohne den Einsatz von aversiven Strafmaßnahmen zu erziehen.
6. „TRIEB“ MACHT JEDES TRAINING ÜBERFLÜSSIG
Stell dir vor, Jagdverhalten wäre ein Trieb. Es gäbe keinerlei Möglichkeit, es zu kontrollieren oder zu steuern. Wie wir bereits erwähnt haben, sind „Triebe“ unkontrollierbar, sowohl für den Hund selbst als auch für den Menschen. Wenn dies der Fall wäre, dann wären positive Trainingsprotokolle wie das Jagdersatztraining völlig überflüssig. Egal, welche Trainings- und Managementmaßnahmen ergriffen würden, sie wären unwirksam, um ein triebhaftes Verhalten zu kontrollieren oder zu steuern.
WAS MEINST DU:
Ist es gerechtfertigt, den Begriff „Trieb“ weiterhin zu nutzen?